Tattoos haben die Mitte erreicht: Lange Zeit verpönt als Seemanns- und Rebellenschmuck, tragen heute auch Ärzte und Rentnerinnen Tinte unter der Haut und irritieren Ästheten.
„Geht der Tattoo-Trend endlich zu Ende?“, fragte Die Welt 2015 mit plakativer Verzweiflung. Aus ästhetischer Sicht nachvollziehbar. Ließen sich die Leute am Anfang des Trends noch dezente kleine Symbole in die Haut stechen, sieht man heute die Ganzkörper-Tapete, die nicht selten an eine Fußgängerunterführung erinnert – nach dem Besuch einer Sprayer-Gang. Auch beim Fußball fragt man sich immer öfter, ob die Spieler noch fürs Kicken bezahlt werden oder ob sie nicht in erster Linie Models sind für Frisur- und Tattoo-Mode.
Aber woher kommt eigentlich diese Lust an der Körpertinte? Eine Untersuchung der Uni Leipzig 2016 ergab, dass in Deutschland über 40 Prozent in der Altersgruppe zwischen 25 und 34 Jahren tätowiert sind, Männer wie Frauen, also fast jeder Zweite. Und immer häufiger begegnet man auch Männer und Frauen aus der Altersgruppe Ü-60 mit einem Tattoo, das ganz sicher nicht aus ihrer wilden Jugendzeit stammt.
Bis in die 1980er Jahre trugen Frauen so gut wie keine Tattoos und Männer nur, wenn sie Seeleute waren, Rocker oder einige Zeit eingesessen hatten. Trendy wurde es erst in den 1990ern. Inzwischen haben auch Bürgerliche ihr Tintenherz entdeckt. Untrügliches Zeichen: 2006 knallte der Spielzeugkonzern Mattel eine Barbie mit Arschgeweih auf den Markt. Und spätestens wenn Schnulzenschleuder Florian Silbereisen Weihnachten 2019 mit Kompass-Tattoo auf dem Traumschiff anheuert, ist dieser Trend vollspießerkompatibel und so sexy wie Vokuhila.
Heute symbolisieren Tattoos nicht mehr Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, sondern ganz im Gegenteil, sie sind Ausdruck von Individualität, ergab eine Studie der Ruhr-Universität Bochum. Doch wenn jeder auf die gleiche Weise individuell sein will, wird das Individuelle schnell zur Uniform. Eben diese Erkenntnis könnte Tattoos langfristig wieder verschwinden lassen.
Foto: Jakob Fleig @whatever_we_see