Der Christo des Modedesigns

In der Filmdoku Martin Margiela – Mythos der Mode gelingt Regisseur Reiner Holzemer eine seltene Annäherung an den unsichtbaren belgischen Mode-Designer, der seinem Metier ein neues Gesicht gab.

Jacken aus Perücken, Pullover aus gebrauchten Socken, Oberteile, mal aus Handschuhen, mal aus Plastiktüten. Martin Margiela praktizierte Upcycling, lange bevor der Begriff zum Modewort wurde. Bei anderen Entwürfen kehrte er das Innere nach außen, machte Nähte, Fäden und Polster sichtbar, und offenbarte damit den Entstehungsprozess der Kleidungsstücke. Statt im branchenüblichen glamourösen Ambiente präsentierte Margiela seine Kreationen lieber auf Baustellen, in Metrostationen und im Speisesaal der Heilsarmee. Seine Models castete er auf der Straße. „Er richtete sich an Frauen, die frei waren, die sich nicht über ihren Sex-Appeal definierten“, sagt Sandrine Dumas, ein ehemaliges Margiela-Model. „Auch an arbeitende Frauen, denn es war ja auch Alltagsmode.“ Gewöhnliche Menschen statt living Barbies und Kens. Die unnatürliche Körperproportionen der milliardenfach verkauften Spielzeug-Puppen veranschaulichte er, indem er Barbies und Kens Kleidung auf Lebensgröße „aufblies“ und damit demonstrierte, wie schlecht sie realen Menschen passen. Ähnlich wie der 2020 verstorbene Konzeptkünstler Christo verhüllte Margiela, um zu enthüllen. Oft liefen seine Models mit verschleierten Gesichtern über den Laufsteg. „Als ich zum ersten mal einen Schleier an einem Model ausprobierte, passierte etwas mit mir. Ohne das Gesicht war da nur noch das Kleid und die Bewegung des Kleides. Und ich liebte das.“

Mehr als zehn Jahre nach seinem Rückzug aus der Modebranche ist der Ruf des 1957 geborenen Modeschöpfers immer noch legendär – obwohl oder vielleicht gerade, weil er stets hinter seinen Kreationen verschwand. Kein anderer Modedesigner war so unsichtbar. „Ich wollte immer, dass mein Name mit den Produkten in Verbindung gebracht wird, die ich geschaffen habe – nicht mit meinem Gesicht.“ Auch in dieser Hinsicht brach Margiela mit den Konventionen der Branche. Am Ende der Mode-Shows zeigte er sich nie dem Publikum. Für die seltenen Interviews, die er gab, ließ er sich niemals ablichten, beantwortete sämtliche Fragen nur schriftlich und in der Wir-Form: Wir, das stand für sein Mode-Label Maison Martin Margiela, das er 1988 gegründet hatte, gemeinsam mit seiner Partnerin Jenny Meirens.

„Phantom der Mode“, „Bansky der Mode“, „Fashion’s Invisible Man“ sind typische Analogien, mit denen Medien versuchen, das Phänomen Martin Margiela auf den Punkt zu bringen. Eine vergleichsweise intime Annäherung gelang dem Dokumentarfilmer Reiner Holzemer, der auch Margielas Kollegen Dries Van Noten porträtiert hat. Neben Margiela selbst äußern sich u. a. Jean Paul Gaultier, Modejournalistin Carine Roitfeld, Trendforscherin Lidewij Edelkoort, Modekritikerin Cathy Horyn und Modehistoriker Olivier Saillard. Zwar bleibt Margielas Gesicht auch hier ein Tabu, doch zumindest sieht der Zuschauer seine Hände, hört seine Stimme. Wenn Margielas Hände mit den Überresten einer Sektflasche – Korken, Drahtkrone (Agraffe), Deckel – hantieren und versuchen, sie irgendwie anders zusammenzusetzen, transportiert diese Einstellung gleich zwei Konzepte, die dem Modemacher von Anfang an wichtig waren: Dinge in ihre Bestandteile zerlegen und daraus Neues schaffen. Und Anonymität. „I don’t like the idea of being a celebrity“, sagt er. „Der Gedanke, eine Berühmtheit zu sein, gefällt mir nicht.“

Foto: Helmut Fricke